Äîêóìåíò âçÿò èç êýøà ïîèñêîâîé ìàøèíû. Àäðåñ îðèãèíàëüíîãî äîêóìåíòà : http://imk.msu.ru/Publications/golos_eho/baecker.pdf
Äàòà èçìåíåíèÿ: Sat Feb 3 16:03:51 2007
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Êîäèðîâêà:
Iris Bäcker (Bochum -- Moskau)

Walter Benjamins "Moskau" als Vorbote seiner "Berliner Kindheit"

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Der Titel meines Beitrags verweist auf einen Zusammenhang zwischen Walter Benjamins Moskau Erfahrung (soweit sich diese aus dem Moskauer Tagebuch (1926/1927) und dem Essay "Moskau" (1927) rekonstruieren lÄsst) und dem Erinnerungsbuch an die Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932­1938). Die Konstellation Moskau ­ Berlin mag Ýberraschen, da Benjamins Berliner Kindheit traditionell als Fortsetzung der um das Berlin seiner Kindheit zentrier ten Texte gelesen wird -- beginnend mit den sechs kleinen Texten, die sich un ter dem Titel "VergrÆúerungen" in der Einbahnstraúe (1928) finden, Ýber die Rundfunkgeschichten fÝr Kinder (1929­1932) bis hin zur Berliner Chronik (1932). Eine solche textkritische LektÝre der Berlin Texte ist durchaus legitim, ja produktiv, da sie die fortschreitende Verdichtung der Benjaminschen Erinne rungen bis hin zur "Auszehrung des Faktischen" verfolgt.1 Mindestens ebenso sehr lohnt sich indes ein (auf die spÄtere Berliner Kindheit bezogener) RÝckblick auf Benjamins Moskau Texte, klingt doch hier das Thema "Kindheit" bereits an. Dabei hat man es nicht nur mit einem thematischen Gleichklang zwischen den Moskau und den Berlin Texten zu tun,2 sondern auch mit einem textgene tischen Zusammenhang. Gerade in den Moskau Texten geben sich die Vor zeichen jener ErzÄhlstrategie zu erkennen, die dann fÝr die Berliner Kindheit konstitutiv werden wird. Eben davon handelt das Folgende.

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Die Berliner Kindheit ist ein Erinnerungsbuch, es ist der Versuch, "der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Groústadt in einem Kinde der BÝrgerklasse sich niederschlÄgt" [Vorwort, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 385]. Mit diesen Worten kÝndigt Benjamin im Vorwort zur Pariser Fassung der Berli ner Kindheit seine persÆnliche Geschichte eines Hineinwachsens in eine Kultur an, deren historische Unwiederbringlichkeit ihm schmerzlich bewusst war.3 Bei Benjamins literarischer RÝckkehr in seine kindliche Vergangenheit ver lieren die Berliner Interieurs, HÄuser, Straúen und Orte das vertraute Gesicht. Daher werden in diesem Erinnerungsbuch auch so wenig architektonische SehenswÝrdigkeiten, so wenig faktische kulturelle und soziale Gegebenheiten des Berlins um die Jahrhundertwende sichtbar, wie sie wohl fÝr den Erwachsenen be deutsam wÄren. Schon die Titel der einzelnen Kapitel -- "Der Strumpf" findet sich in gleichberechtigtem Beieinander mit der "SiegessÄule", "Der NÄhkasten" mit dem "Kaiserpanorama", "Das Telefon" mit dem "Tiergarten" -- verweisen auf das, was fÝr das Kind die wirklichen SehenswÝrdigkeiten sind. Der erinnernde Benjamin besieht die Welt, wie es bei Szondi in der schÆ nen Formulierung heiút, "mit dem zweifach fremden Blick: mit dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, mit dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war" [Szondi 1978b, 296]. Um diese Formulierung positiv zu wen den: Benjamin erinnert nicht einfach die Stadt seiner Kindheit, sondern die Stadt als eine ganze Welt, so wie sie sich in ihren WÆrtern, einzelnen Dingen, Wohnungen und Straúen, mi t ihren gelegentlichen Sommerreis en und alljÄhrlichen Sommerwohnungen dem Kind entdeckt. Gegenstand der Schilderung ist weniger das Was der Entdeckung als viel mehr der Vorgang des Entdeckens selbst. Zu dem zentralen Ereignis der Berliner Kindheit wird dementsprechend, dass das Kind alle erdenklichen TÝren Æffnet, jederlei Art von Schwellen Ýberschreitet, die verschiedensten RÄume betritt -- oder doch zumindest in deren Inneres hineinspÄht, hineinlauscht oder hineintas tet. Stets steht hinter diesen einzelnen realen Gesten eine allgemeine psycholo gische Geste, nÄmlich die Erkenntnis als Entdeckung, EnthÝllung, Entschleie rung, EntrÄtselung, Entzauberung etc. Dabei ist es ganz gleich, -- ob das Kind den Riegel der OfentÝre beiseite schiebt [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 397­398];4 -- ob es den Fingerhut "gegens Licht [hielt]", so dass dieser "am Ende sei ner finstern HÆhlung [glÝhte], in der unser Zeigefinger so gut Bescheid wuúte" [Der NÄhkasten, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 425]; -- ob es in die aus Kissen und Bettdecken gebildete HÆhle des Bettes hi neinkriecht [Das Fieber, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 402­406]; -- ob sich die durch zwei Schwellen "doppelt verwahrte Erkerwohnung" an der Steglitzer Straúe, Ecke Genthiner Straúe, die "Kostbares in sich zu

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bergen hatte", vor dem Kind "auftut" [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 400]; -- ob in der groúmÝtterlichen Wohnung im Blumeshof 12 eine Reihe von RÄumen "sich erÆffneten", nÄmlich ein Spindenzimmer, ein anderes Hin terzimmer, ein drittes Hinterzimmer und als "wichtigster von diesen abge legenen RÄumen" die Loggia, die ihrerseits "den Blick auf fremde HÆfe mit Portiers, Kindern und LeierkastenmÄnnern freigab" [Blumeshof 12, Berli ner Kindheit, GS, VII.1, 412]; -- ob das Kind auf der Suche nach Ostereiern mit einem Anspruch von Wissenschaftlichkeit "die dÝstere Elternwohnung als ihr Ingenieur [ent zauberte]" [Verstecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 418]; -- ob es sich -- bereits jenseits der Geschlossenheit der bÝrgerlichen Inte rieurs -- im "Innern" des Gartenpavillons in die Farben vertieft, Ähnlich wie beim Tuschen, "wo die Dinge mir ihren Schoú auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke Ýberkam" [Die Farben, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 424]; -- ob aus der weihnachtlich geschmÝckten Stadt, "aus ihrem Innern", mit dem Weihnachtsmarkt zugleich "noch etwas anderes hervor[quoll]: die Armut" [Ein Weihnachtsengel, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 420]; -- ob sich am Winterabend "ein dunkles, unbekanntes Berlin" vor dem Kind "ausbreitete" [Winterabend, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 414]; -- ob das Kind sich im Sommer "die Gegend, die im Schatten der kÆnig lichen Bauten lag, zu eigen machte" und mit der Pfauenfeder etwas sucht, "was mir die Insel ganz zu eigen gegeben, sie ausschlieúlich mir erÆffnet hÄtte" [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 408, 409]; -- oder ob es sich in Glienecke "neue Territorien erobert", indem es die "Scheidung" zwischen unkundigen und kundigen Radfahrern Ýberwindet und in den Rang derer "rÝckt", "die die Halle verlassen und im Garten radeln durften" [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 409]; -- ob es "ins Innere" des Kaiserpanoramas tritt und hier durch "je ein Fen sterpaar in [die] schwach getÆnte Ferne" der Reisebilder sieht [Kaiserpa norama, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 389, 388]; -- ob es beim Lesen in den KnabenbÝchern "im GestÆber der Lettern den Geschichten nachzugehen [beginnt], die sich am Fenster mir [im Blick auf das SchneegestÆber] entzogen hatten" [KnabenbÝcher, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 396]; -- ob es schlieúlich "im Hintergrund" des Ladens fÝr Schreibbedarf in der "Krummen Straúe" die "anstÆúigen Schriften" ausfindig macht [Krumme Straúe, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 415]. Zu der Reihe der entdeckten und angeeigneten Objekte -- der Objekte, denen die Geste der Erkenntnis gilt -- gehÆrt etwa der Apfel, der sich nach seiner

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"Reise durch das dunkle Land der Ofenhitze" bei dem Kind einfindet, "vertraut und doch verÄndert wie ein guter Bekannter, der verreist war" [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 398]; -- dazu gehÆren die in den "dunklen Schlund" der BetthÆhle hineinge sprochenen WÆrter, die "als Geschichten aus [der Stille] wiederkehrten" [Das Fieber, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 405]; -- dazu gehÆrt auch der "groúe GlaswÝrfel" im Salon der Erkerwohnung an der Steglitzer Ecke Genthiner, "der ein ganzes lebendiges Bergwerk in sich schloú, worin sich kleine Knappen, Hauer, Steiger mit Karren, HÄmmern und Laternen pÝnktlich im Takte eines Uhrwerks regten" und -- dies ist schon nicht mehr der evozierte Blick des Kindes, sondern derjeni ge des Schreibenden -- dem "Kind des reichen BÝrgerhauses noch den Blick auf ArbeitsplÄtze und Maschinen gÆnnte" [Steglitzer Ecke Genthi ner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 399]. Man kÆnnte die Auflistung fortsetzen. So bietet der Blumeshof 12 dem Kind nicht nur Geborgenheit.5 Die Wohnung birgt, nachdem das Kind sie auf ausge dehnten StreifzÝgen "durchwandert" hat, allerlei Entdeckungen.
Der bald mer, heit, Groúmutter auf ihrem Erker guten Tag zu sagen, wo neben ihrem NÄhkorb Obst und Schokolade vor mir stand, muúte ich durch das riesige Speisezim um dann das Erkerzimmer zu durchwandern. [Blumeshof 12, Berliner Kind GS, VII.1, 413]

Aber "der erste Weihnachtsfeiertag erst zeigte, wozu denn eigentlich diese RÄume geschaffen waren": fÝr die Bescherung. Und so wie sich das Kind nur schrittweise den Geschenken "im Hintergrunde des groúen Zimmers" nÄhert, so nimmt es diese erst im schrittweisen RÝckzug aus der Wohnung in Besitz.
Erst drauúen auf der Diele, wo das MÄdchen sie uns mit Packpapier umwickelte und ihre Form in BÝndeln und Kartons verschwunden war, um uns an ihrer Statt als BÝrgschaft ein Gewicht zu hinterlassen, waren wir ganz der neuen Habe sicher. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 413]

Auúer den alltÄglichen SÝúigkeiten und der weihnachtlichen Bescherung enthÄlt der Blumeshof 12 auch noch "WeltbÝrgerlichkeit", und dies macht seine Einzigartigkeit aus. ýber die Ansichtskarten, welche die Groúmutter aus aller Welt sendet, vermittelt sich die NÄhe der Ferne. Denn in all den bereisten Orten "stand die Luft von Blumeshof", und
die groúe bequeme Handschrift, die den Fuú der Bilder umspielte, oder sich in ihrem Himmel wÆlkte, zeigte sie so ganz und gar von meiner Groúmutter bewohnt,

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daú sie zu Kolonien des Blumeshof wurden. Wenn dann ihr Mutterland sich wie der auftat, betrat ich dessen Dielen so voll Scheu, als hÄtten sie mit ihrer Herrin auf den Wellen des Bosporus getanzt und als verberge sich in den Persern noch der Staub von Samarkand. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 411]

Die virtuellen RealitÄten, die das Kind betrachtend, zuhÆrend, lesend konstru iert, sie sind vielleicht die faszinierendsten all seiner Entdeckungen -- und fÝr das Kind nicht weniger real als die alltÄglichen RealitÄten. In der Weise, wie die Ansichtskarten der Groúmutter die Welt in sich einschlieúen, wie das Kaiserpa norama Sehnsucht erweckende Reisebilder enthÄlt [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 388], wie aus dem GedÄchtnis der Tante Lehmann nicht nur die vielen "Nester und GehÆfte der Mark, wo [die] Sippe einst verstreut geses sen hatte", sondern auch die "VerschwÄgerungen, Wohnsitze, GlÝcks und UnglÝcksfÄlle all der SchÆnflieú, Rawitschers, Landsbergs, Lindenheims und Stargards" aufleben [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 399], so bergen auch die "KnabenbÝcher" die MÆglichkeit fÝr den Entwurf einer inneren Welt, einer Welt, die sich im ýbrigen nicht nach gÄngigen geo graphischen Parametern, sondern nach Parametern eines durcheinander gera tenen Alphabets und der Alliteration ordnet:
Die fernen LÄnder, welche mir in ihnen [den Geschichten] begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken [des SchneegestÆbers drauúen] umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere fÝhrt, so la gen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, TromsÆ und Transvaal in meinem In nern. [KnabenbÝcher, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 396­397]

Dass die Entdeckung der mit allerlei Dingen gefÝllten nÄheren RÄume in aller Regel derjenigen der entlegeneren RÄume der Stadt, ihrer Umgebung und der gesamten Welt vorausgeht, diese natÝrliche Ordnung tritt in der Anordnung der einzelnen Miniaturen der Berliner Kindheit auúer Kraft. Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch Benjamin in seinem Vorwort zur letzten Fassung der Berliner Kindheit gegen jegliche Erwartungen des Lesers an eine chronologische Narration verwahrt.6 Bedeutsamkeit gewinnt fÝr Benja mins Erinnerung statt einer "KontinuitÄt der Erfahrung" die "Tiefe der Er fahrung" des Kindes, welches die Dinge erkennt und sie buchstÄblich entdeckt. Und diese Dinge, die sich vor Benjamin auftaten, als er noch Kind war, erweisen sich fÝr ihn nun, da er das Kind nicht mehr ist, als ein SchlÝssel zur Tiefendi mension der vergangenen Erfahrung, in der die Zukunft bereits potentiell enthalten ist. Benjamin ergrÝndet seine Kindheitserfahrung, um in den Din gen, die sich dem Kind entdeckten, Vorzeichen der Zukunft zu entdecken. Er unternimmt daher nicht einfach eine Reise in die Vergangenheit -- so wie es

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das traditionelle Genre der Memoiren vorsieht --, sondern zugleich eine Reise in die Gegenwart, als diese noch Zukunft war.7 Von der Verwandlung frÝher Vorzeichen in spÄtere Zeichen gibt das Kapi tel "Der Strumpf" eine besonders schÆne Anschauung.8 Der Text erzÄhlt von der Kommode, gegen deren WiderstÄnde das Kind so lange ankÄmpft, bis die Kom modentÝr ihm "entgegen schnappt". Das Kind "schafft sich bis in ihren hinters ten Winkel Bahn", um von dort ein eingerolltes Strumpfpaar hervorzuholen und sodann in dessen Inneres "die Hand so tief wie mÆglich zu versenken":
Es war "Das Mitgebrachte", das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre [der Kommode] Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust um spannt und mich nach KrÄften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestÄtigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die EnthÝllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, "Das Mitgebrachte" aus seiner wollenen Tasche auszuwic keln. Ich zog es immer nÄher an mich heran, bis das BestÝrzende sich ereignete: ich hatte "Das Mitgebrachte" herausgeholt, aber "Die Tasche", in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. [Der Strumpf, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 416­417]

Der Text fÝhrt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Auúen eines weiteren Inne ren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloúlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfÝgen als Äuúerlich verschiedene Handlungen Ýber eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Auúen und Innen. "Die Tasche", die "Das Mitgebrachte" enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt. Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spÄtere poetologische Er kenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist, und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:
Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daú Form und Inhalt, HÝlle und VerhÝlltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus "Der Tasche" holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 417]

Um nun die Probe aufs Exempel zu machen und Benjamins Lehre der Auswech selbarkeit von Form und Inhalt auf seinen eigenen Text der Berliner Kindheit anzuwenden: Benjamin, der sich seine Berliner Kindheit vergegenwÄrtigt, trÄgt (so wie "Die Tasche", wie die Form) seine Vergangenheit (als "Das Mit gebrachte", als Inhalt) in sich. Er entdeckt dieses "Mitgebrachte", diesen Inhalt

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(seine Vergangenheit) in dem Sinne, dass er, als er noch Kind war, bereits die Gegenwart des Erwachsenen (als "Das Mitgebrachte", als Inhalt) in sich trug (so wie "Die Tasche", wie die Form). Anders gesagt: Der Benjaminsche gegenwÄrti ge "Inhalt" erweist sich als die "Form", die seine vergangene Kindheitserfahrung angenommen hat. Die persÆnliche Vergangenheit wird so zu einer Fortsetzung der Gegenwart. Das, was Benjamin auf seiner Zeitreise (von der Gegenwart) in die Vergan genheit entdeckt, sind jene Bilder, die potentiell seine spÄteren Gedanken in sich bargen. Auf seiner Reise (aus der Vergangenheit) in die Gegenwart entdeckt er jene Gedanken, die von Anfang an (wenn auch unsichtbar) in den frÝhen Bil dern geborgen waren. Benjamin sucht durch die Erinnerung nicht seine Berliner Kindheit selbst dingfest zu machen, sondern die Urbilder seiner Gedanken, so wie er diese in den Bildern der Kinderzeit entdeckt. Der erinnernde Benjamin ist jenen "Bildern und Allegorien" auf der Spur, die schon in der Luft seiner Kindheit lagen und "die Ýber meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der LoggienhÆhe Ýber die HÆfe des Berliner Westens" [Loggien, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 386].
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Es dÝrfte deutlich geworden sein, dass Benjamin mit der Berliner Kindheit ein Buch schreibt, wie man es sich verschiedener von traditionellen Memoiren kaum denken kÆnnte -- dort die Chronologie der Ereignisse, hier die Entfaltung des nichtlinearen Denkens. Benjamins Interesse gilt in der Berliner Kindheit vor allem der Welt im Moment ihrer Entdeckung, es gilt jenen Bildern, die auftauchten, als die Welt dem Kind noch unbekannt war und es die ersten Schritte unternahm, um sie zu entdecken. Ein RÝckblick auf Benjamins Moskau Texte legt nahe, dass diese ungewÆhnliche und alles andere als triviale ErzÄhlstrategie der Berliner Kindheit auf Benjamins Moskau Erfahrung zurÝckgeht, als er, dem die unbekannte Mos kauer Welt gegenÝberstand, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand.9 Bei seiner Ankunft im "asiatischen"10 Moskau 1926 trifft Benjamin auf ei ne Stadt, die ihm gÄnzlich unvertraut ist, und in die er sich allererst einleben muss. Im Bewusstsein seiner unvermeidlichen "europÄischen" Befangenheit steuert Benjamin einer vorschnellen Konzeptionalisierung seiner Moskau Er fahrung entgegen. Ihm geht es nicht um ein ("Ýberlegenes") konzeptionelles VerstÄndnis, sondern um ein konkret gegenstÄndliches VerstÄndnis ("dicht un ter die Menschen und Dinge gemischt") der fremden Stadt. Er braucht die Er fahrung der NÄhe, die Erfahrung des kÆrperlich sinnlichen Kontaktes, um zu einem synÄsthetischen Bild von Moskau zu kommen. Ein zentrales Verfahren Benjamins ist es dabei, sich "ins sonderbare Tem po dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bÄurischen BevÆlkerung [zu] schi cken". Diese synchrone Bewegung in und mit der Menge erfÄhrt Benjamin nicht

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nur zu Fuú, wenn er sich ganz dem "DrÄngen und Sichwinden" der Passanten, deren "Serpentinengang" ["Moskau", 1., GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 313] ÝberlÄsst, sondern auch in der Trambahn:
BefÆrderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bÄurischen BevÆlkerung schicken. Auch wie einander techni scher Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltge schichtliche Experiment stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zÄhes Stoúen, DrÄngen, Gegenstoúen bei dem Besteigen eines meisten teils schon bis zum Bersten ÝberfÝllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei solcher Gelegenheit ein bÆses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. ErfÄhrt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil ver rammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verlÄút, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die BefÆrderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz gerÄumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein MassenphÄnomen. ["Moskau", 9, GS, IV.1, 330­331, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 389, 313]

Dank der Synchronisierung seiner Bewegung mit derjenigen der Stadt gewinnt Benjamin nicht nur eine optische, sondern vor allem eine rhythmische, "tak tische", ja taktile Erfahrung.11 Interessanter aber (im Blick auf die ErzÄhlstrate gie der Berliner Kindheit) ist, dass sich Benjamin auf dem einmal eingeschla genen Weg in der Lage eines Kindes wiederfindet, sucht er sich doch in das unbekannte Moskauer Alltagsleben einzureihen und sich dessen Praxis anzueig nen. Und tatsÄchlich macht die fremde Stadt den Reisenden in gewisser Weise zu einem Kind und "traut" ihn den Dingen erst allmÄhlich "an".12 Liest man Benjamins Moskau Texte unter diesem Blickwinkel, dann erÆffnet sich eine ganze Serie von Kindheits Assoziationen. Dass es in der ersten Woche die "Technik, sich auf Glatteis zu bewegen", neu anzueignen gilt ["Mos kau", 1, GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 298], davon ist im Essay noch ein zweites Mal die Rede: Benjamin findet sich auf dem Moskauer Glatteis buchstÄblich in das "Kinderstadium" versetzt ["Moskau", 2, GS, IV.1, 318]. Und wenn Benjamin die Moskauer Schlittenfahrten schildert, werden auch hier Kindheits Erinnerungen explizit:
Dicht am BÝrgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht hÆher hinaus als alle anderen und streift mit seinem ärmel die

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Passanten. Auch dies ist fÝr den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo EuropÄer in geschwinder Fahrt ýberlegenheit, Herrschaft Ýber die Menge ge nieúen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Din ge gemischt. [...] Kein Blick von oben herab: ein zÄrtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fÝhlt sich wie ein Kind, das auf dem StÝhlchen durch die Wohnung rutscht. ["Moskau", 9, GS, IV.1, 331]

Nicht von ungefÄhr erinnern ihn die auf der Straúe Handel treibenden Frauen an GroúmÝtter, die sich fÝr ihre Enkel ein Mitbringsel ausgedacht haben:
Alle fÝnfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schÝtzt äpfel oder Apfelsinen vor der KÄlte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, NÝsse, Bonbons. Man denkt, eine Groúmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel Ýberraschen kÆnnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein biúchen auszuruhen, an der Straúe stehen. ["Moskau", 2, GS, IV.1, 317­318, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 299, 301]

WÄhrend das Thema Kindheit in der letzten Passage nur anklingt, prÄsentiert es sich in den ersten beiden Passagen explizit. Benjamin empfindet sich buch stÄblich in das "Kinderstadium" versetzt. Und vielleicht ist es auch das vorweih nachtliche Moskau, mit den auf der Straúe feilgebotenen Tannen, den Kerzen, dem Baumschmuck, welches Benjamin in seine kindliche Vergangenheit ent rÝckt haben mag.13 Man darf mit gutem Grunde annehmen, dass diese durch die Moskau Erfahrung unwillkÝrlich aufgerufenen Kindheitsassoziationen potentiell jene ErzÄhlstrategie bergen, welche Benjamin dann in seinem Erinnerungsbuch realisieren wird. Von der VerknÝpfung der Themen Moskau und Berlin sprechen bereits die letzten Passagen des Moskauer Tagebuches, die Benja min unmittelbar nach seiner RÝckkehr aus Moskau nachtrug. Laut Benjamin erlaubt die Moskau Erfahrung einen neuen und Ýberraschenden Blick auf Berlin:
Es ist mit dem Bilde der Stadt [Berlin] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen ZustÄnde: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Ruúland noch so wenig kennen lernen -- was man lernt, ist Europa mit dem bewuúten Wissen von dem, was sich in Ruúland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fÄllt dem einsichtsvollen EuropÄer als erstes in Ruúland zu. [Moskauer Ta gebuch, GS, VI, 399]14

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Vor dem Hintergrund der Moskauer EindrÝcke und erst im Kontrast zu der fremden Stadt gewinnt die eigene Stadt, gewinnt Berlin neue ZÝge. Dieser Blick auf die eigene Stadt mit gleichsam fremden Augen ist fÝr Benjamin selbst "der unzweifelhafteste Ertrag" seines Moskau Aufenthaltes. Zu einem weiteren Ertrag des Moskau Aufenthaltes muss man ohne Zwei fel auch die Berliner Kindheit zÄhlen, mit der Benjamin die Erfahrung seiner Pseudo Kindheit in Moskau aktualisiert. Die Reise in die Fremde, in der er, der Erwachsene, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand, war Benjamin unwill kÝrlich zu einer Reise in die Zeit geraten. Im Laufe der Reflexion dieser positiv verbuchten Erfahrung wird Benjamin das kÝnstlerische Verfahren jenes zwei fach verfremdenden Blicks, von dem oben die Rede war, fÝr sich neu entdecken. Und er wird dieses Verfahren fÝr seine ErzÄhlstrategie der Berliner Kindheit re gelrecht verpflichten. Hier, in seinem Erinnerungsbuch, verlegt Benjamin den Ort der Handlung in das Berlin seiner Kindheit. Aber um in ein solches Berlin zu geraten, bedarf es jener neuen Optik, die es erlaubt, das Gewohnte neu zu sehen oder, wie Ben jamin selbst formulieren wÝrde, "das Neue wiederzuerkennen". Am Bestim mungsort seiner Reise in die Zeit findet er sich in weiter Ferne von der ge genwÄrtigen Stadt und zugleich in der NÄhe jener Bilder, die sich im Laufe der kindlichen Entdeckung der Welt herausbildeten.

1. Konzentriert man die textkritische LektÝre auf die "eigentliche" Berliner Kindheit, so ergibt sich fÝr den Zeitraum 1931­1938 eine Variantenreihe verschiedener Fassungen, begin nend mit der Berliner Chronik aus dem Jahr 1932 Ýber die Vorabdrucke in der Frankfur ter Zeitung in den Jahren 1932/1933 und die so genannte Gieúener Fassung von 1934 bis hin zu der in der Pariser BibliothÕque Nationale aufbewahrten Fassung von 1938 als textgenetischem Fluchtpunkt (vgl. etwa SchÆttker 2000, SchÝtz 1993, 2004 oder Witte o.J., von dem das Wort von der "fortschreitende[n] Auszehrung des Faktischen" [Witte o.J.: 1] stammt). Die Beobachtung, dass Benjamin zuletzt von Faktischem weitgehend absieht, lÄsst jedoch keineswegs den Schluss zu, dass die Welt der Berliner Kindheit nicht durch Dinge und an diese geknÝpfte Ereignisse konstituiert sei. Geradezu umge kehrt erscheint im Gegenzug zur Auszehrung von Daten, Namen und "Physiognomien" die kindliche Welt der Dinge zusehends verdichtet. -- Benjamin hat die Berliner Kindheit im Herbst 1935 in einem Brief an Gershom Scholem zu seinen "zerschlagenen BÝchern" gezÄhlt [zitiert nach den Anmerkungen zur Berliner Kindheit, GS, IV.2, 968]. "Zerschlagen" schien ihm das Projekt, nachdem eine Publikation in Deutschland und in æsterreich gescheitert war. Unterdessen unterwarf er die Berliner Kindheit immer neuen KÝrzungen, Streichungen und Umgruppierungen, so dass am Ende die dichtesten Mini aturen der Fassung letzter Hand stehen. Die erste Buchpublikation kam erst postum, mit der von Theodor W. Adorno eingerichteten so genannten Adorno Rexroth Fassung

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(1950) zu Stande. -- Die Gesammelten Schriften enthalten die Einbahnstraúe [GS, VI.1, 83­148, darin die "VergrÆúerungen", GS, VI.1, 113­116], die Rundfunkgeschichten fÝr Kinder [GS, VII.1, 68­249], die Berliner Chronik [GS, VI, 465­519] und zwei Fassun gen der Berliner Kindheit. Bei der Adorno Rexroth Fassung [GS, IV.1, 235­304] han delt es sich um eine rekonstruierte Fassung, wÄhrend die Pariser Fassung letzter Hand eine von Benjamin selber festgelegte Reihenfolge der einzelnen Kapitel bietet [Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.1, 385­433]. Mit der 2000 herausgegebenen frÝhen Gieúener Fassung [Benjamin 2000] liegt nunmehr eine weitere Fassung vor, die von Benjamin autorisiert wurde. Im Folgenden zitiere ich die Berliner Kindheit nach der Pariser Fassung letzter Hand unter Angabe der KapitelÝberschriften. -- Zur Editions geschichte der Berliner Kindheit vgl. die Anmerkungen zur Berliner Chronik, GS, VI, 797­807, die Anmerkungen zur Berliner Kindheit, GS, IV.2, 964­986 sowie die Anmer kungen zur Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.2, 691­723. 2. Es ist nicht nur das Thema Kindheit, welches die Moskau und Berlin Texte miteinander ver bindet. Es sind auch die StÄdte selbst, die fÝr Benjamin eine gewisse Einheit bilden, eine Einheit von GegensÄtzen: das proletarische Moskau vs. das bÝrgerliche Berlin. Das Mos kauer Gemeinschaftsleben, in dem Existieren keine Privatangelegenheit, sondern Kollek tivsache zu sein scheint, kontrastiert mit jener Vereinzelung, die Benjamin aus Berlin ver traut ist und die ihm vor dem Hintergrund seiner Moskau Erfahrung besonders ins Auge fÄllt. Berlin ist in der Wahrnehmung des heimkehrenden Benjamin, in der Wahrnehmung dessen, "der aus Moskau kommt, eine tote Stadt. Die Menschen auf der Straúe erscheinen einem ganz trostlos vereinsamt, jeder hat es sehr weit zum anderen und ist inmitten eines groúen StÝcks Straúe vereinsamt" [Moskauer Tagebuch, GS, VI, 399]. 3. Will man den Lebenslauf des zeitlebens unbehausten Benjamin verfolgen, so empfiehlt sich fÝr ein solch biographisches Interesse der bebilderte Ausstellungsband Walter Benjamin 1892­1940 1990. 4. Dieses und die folgenden Beispiele sollen das æffnen von TÝren, ýbertreten von Schwellen und Betreten von RÄumen veranschaulichen. Ich beschrÄnke mich dabei auf Belege aus der dichtesten Pariser Fassung letzter Hand, an die sich weitere Belege aus den frÝhe ren Fassungen der Berliner Kindheit anschlieúen lieúen. Vgl. etwa die TextstÝcke "Die Speisekammer" und "SchrÄnke" aus der Adorno Rexroth Fassung [GS, IV.1, 250, 283­287]. -- Von der "Poetik der RÄume" in der Berliner Kindheit handelt das gleichnamige Unterkapitel in Schneider [Schneider 1986, 134­142]. BrÝggemann re konstruiert "RÄume und Augenblicke" der Berliner Kindheit in ihrem kultur und insbe sondere in ihrem architekturgeschichtlichen Kontext [BrÝggemann 1989]. 5. "Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgner als selbst in der elterlichen." [Blu meshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 412] 6. "Das hat es mit sich gebracht, daú die biographischen ZÝge, die eher in der KontinuitÄt als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurÝcktreten." [Vorwort, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 385] -- Bereits in der Berliner Chronik mÆchte Benjamin seine frÝhesten Erinnerungen nicht als eine literarische Autobiographie

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im engeren Sinne verstanden wissen, denn diese "hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluú des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede." [Berliner Chronik, GS, VI, 488] 7. Bei Benjamin selbst findet sich eine Formulierung, die von einer gleichzeitigen PrÄsenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft spricht: "[...] und lange ehe diese Orte so ver Ædet lagen, daú sie antiker als Thermen sind, trug dieser Winkel des Zoologischen Gar tens die ZÝge des Kommenden. Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzÄhlt, daú sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder VorgÄrten, wo kein Mensch sich jemals aufhÄlt. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergan genes." [Der Fischotter, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 407] -- Aber am prÄgnantesten formuliert vielleicht ein Satz aus der Einbahnstraúe (1928), was den Impetus der Benja minschen Erinnerung bestimmt. "Wie ultraviolette Strahlen zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte." [Ein bahnstraúe, GS, VI.1, 142] -- Auf die scheinbare Paradoxie des Benjaminschen Kon zepts von Vergangenheit hat schon Szondi hingewiesen: "Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zu kunft und doch Vergangenheit zu sein." [Szondi, 1978a, 286] 8. Der Strumpf, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 416­417. Nicht von ungefÄhr findet Benjamin fÝr das aufschlussreiche Strumpf Exempel in verschiedenen Texten Verwendung, so in sei nem Essay "Zum Bilde Prousts" [GS, II.1, 310­324] und in den verschiedenen Fassun gen der Berliner Kindheit. In der Adorno Rexroth Fassung verknÝpft das TextstÝck "SchrÄnke" [GS, IV.1, 283­287] eine ausfÝhrlichere Strumpf Sequenz mit der BÝcherschrank Sequenz, die in der Pariser Fassung letzter Hand nicht mehr enthalten ist. Stattdessen nimmt hier die Strumpf Sequenz das gesamte Kapitel "Der Strumpf" ein. -- Zu einem textkritischen Vergleich der Varianten des Textes vgl. die Anmerkun gen zur Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.2, 697­699. 9. Der Moskau Aufenthalt Benjamins dauert vom 6. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927. Zu den UmstÄnden der Reise vgl. das "Vorwort" von Gershom Scholem sowie die "An merkungen" von Gary Smith zum Moskauer Tagebuch [Benjamin 1980, 9­15, 177­206], vgl. auúerdem die Anmerkungen zu den Denkbildern, GS, IV.2, 987­99 0 sowie Braese [Braese 1995]. SchlÆgel [SchlÆgel 1998] hat "Die Spur Walter Benjamins" in Moskau aufgenommen und in dem gleichnamigen Kapitel seines Buches Moskau le sen. Die Stadt als Buch die Topographie des Moskauer Tagebuches lesbar gemacht. -- WÄhrend des Moskau Aufenthaltes verfasst Benjamin ein Tagebuch, dessen Eintragun gen vom 9. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927 datieren. ­ Aus den Tagebuchein tragungen entstehen mehrere Publikationen; die wichtigste ist der Essay "Moskau", der in der Kreatur, Band 1 (1927), Heft 1, 71­102 erscheint. ­ Ich zitiere den Essay unter Angabe der Kapitelnummer nach den Gesammelten Schriften, wo er als eines der Denk bilder publiziert ist ["Moskau", Denkbilder, GS, IV.1, 316­348].

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10. Benjamin, der neben dem gemeinsam mit Franz Hessel verfassten Text Ýber die Pariser "Passagen" auch das Pariser StÄdtebild "Paris, die Stadt im Spiegel. LiebeserklÄrungen der Dichter und KÝnstler an die ,Hauptstadt` der Welt" (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 356­359] gezeichnet hat, der darÝber hinaus die StÄdtebilder "Neapel" (1925) (ge meinsam mit Asja Lacis) [Denkbilder, GS, IV.1, 307­316], "San Gimignano" (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 364­366], "Marseille" (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 359­364] und Bergen (1930) ["Nordische See", Denkbilder, GS, IV.1, 383­387] von seinen Reisen mitgebracht hat, dem viel gereisten Benjamin muss Moskau wie eine alles andere als europÄische Stadt erschienen sein. In diesem Sinne versteht sich seine metaphorische Bezeichnung des Moskauer Umgangs mit der Zeit: "Im Zeitgebrauche wird daher der Russe am allerlÄngsten ,asiatisch` bleiben." ["Moskau", 8, GS, IV.1, 329] 11. Seine in der synchronen Bewegung mit der Stadt liegende Erkenntnisweise hat Benjamin in ei nem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 5. Juni 1927 kommentiert: "[Mein] Versuch ei ner Beschreibung dieses Aufenthaltes [...] ist [...] noch nicht erschienen. Dort habe ich es unternommen, diejenigen konkreten Lebenserscheinungen, die mich am tiefsten betroffen haben, so wie sie sind und ohne theoretische Exkurse, wenn auch nicht ohne innere Stel lungnahme, aufzuzeigen. NatÝrlich lieú die Unkenntnis der Sprache mich Ýber eine gewis se schmale Schicht nicht hinausdringen. Ich habe aber, mehr noch als an das Optische mich an die rhythmische Erfahrung fixiert, an die Zeit, in der die Menschen dort leben und in der ein ursprÝnglicher russischer Duktus mit dem neuen der Revolution sich zu einem Ganzen durchdringt, das ich westeuropÄischen Maúen noch weit inkommensurabler fand als ich erwartet hatte." [zitiert nach den Anmerkungen zu den Denkbildern, GS, IV.2, 989] 12. So lautet ein Ausdruck Benjamins aus der Berliner Kindheit: "So war es um diese Stunde im mer: nur die Stimme des KindermÄdchens stÆrte den Vollzug, mit dem der Wintermor gen mich den Dingen in meinem Zimmer anzutrauen pflegte." [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 398] -- Benjamin erscheint in den Moskau ebenso wie in den Ber lin Texten mit einer Andacht fÝr die Dinge, wie sie vorbildlicher fÝr jene Berliner Kin der nicht hÄtte sein kÆnnen, fÝr die er seine Rundfunkgeschichten schrieb. In dem Bei trag "Berliner Spielzeugwanderung I" [Rundfunkgeschichten fÝr Kinder, GS, VII, 98­105] empfiehlt er eine Kennerschaft um die vermeintlich nebensÄchlichen Dinge statt eines bloú zweckrationalen oder gar konsumorientierten Umgangs mit diesen, da mit sie sich entdecken mÆgen. "Je mehr ein Mensch von einer Sache versteht und je mehr er weiú, wieviel SchÆnes von einer bestimmten Art es gibt -- ob das nun Blumen, BÝcher, Kleider oder Spielsachen sind --, desto mehr kann er an allem, was er davon weiú und sieht, seine Freude haben, desto weniger ist er darauf versessen, es gleich zu besitzen, sich zu kaufen oder schenken zu lassen." [Rundfunkgeschichten fÝr Kinder, GS, VII, 104] 13. Es ist kein Zufall, dass dieser Weihnachtsschmuck mit aller Beharrlichkeit in Benjamins Blickfeld fÄllt, hatte er doch Ýberhaupt ein Faible fÝr allerlei Art von Spielzeug. Gerade das Moskauer Tagebuch verrÄt Benjamin als einen leidenschaftlichen Sammler von Spielzeug: "Tagaus, tagein ist man auf Kinderfeste eingerichtet. Es gibt MÄnner,

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die KÆrbe voll Holzspielzeug haben, Wagen und Spaten; gelb und rot sind die Wagen, gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. All dies geschnitzte und gezimmerte GerÄt ist schlichter und solider als in Deutschland, sein bÄuerlicher Ursprung ist deutlich sicht bar. Eines Morgens stehen am Straúenrand niegesehene winzige HÄuschen mit blitzen den Fenstern und einem Zaun um den Vorplatz: Holzspielzeug aus dem Gouvernement Wladimir. Das heiút: ein neuer Warenschub ist eingetroffen." ["Moskau", 3, GS, IV.1, 320, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 301­302] 14. Diese drittletzte Eintragung des Tagebuches fÝr den 30. Januar 1927 Ýbernimmt Benjamin nahezu unverÄndert in den Essay "Moskau", und zwar an exponierter Stelle, nÄmlich im ersten Absatz des ersten Kapitels. ErÆffnet wird der Essay von einem Satz, der sich im Moskauer Tagebuch nicht findet, und der die "neue Optik" auf den Punkt bringt: "Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen." ["Moskau", 1, GS, IV.1, 316] SchÝtz [SchÝtz 2004, 35] identifiziert diesen Satz Benjamins als eine Re plik auf die Sentenz Theodor Fontanes ("`Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.' Das habe ich an mir selber erfahren."), den Eingangssatz der Wande rungen durch die Mark Brandenburg, den Benjamin in einem seiner RundfunkbeitrÄge zitieren wird [, Rundfunk geschichten fÝr Kinder, GS, VII, 137­145, hier 138].

primärliteratur
Benjamin Walter 1963 -- StÄdtebilder. Nachwort von Peter Szondi. (edition suhrkamp; Bd. 17). Frankfurt am Main, 1963. Benjamin Walter 1972­1999 -- Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiede mann und Hermann SchweppenhÄuser. Unter Mitwirkung von Theo dor W. Adorno und Gershom Scholem. 7 BÄnde und Supplement. Frankfurt am Main, 1972­1999. Benjamin Walter 1980 -- Moskauer Tagebuch. Aus der Handschrift herausge geben von Gary Smith. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem. (edi tion suhrkam; Bd. 1020, Neue Folge; Bd. 20). Frankfurt am Main, 1980. [Russisch: . 1997 -- . ., 1997.] Benjamin Walter 2000 -- Berliner Kindheit um neunzehnhundert: Gieúener Fassung. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frank furt am Main, 2000.

sekundärliteratur
Braese Stephan 1995 -- Deutsche Blicke auf Sowjet Ruúland: die Moskau Berichte Arthur Holitschers und Walter Benjamins // Tel Aviver Jahrbuch fÝr deutsche Geschichte, 1995, 24: 117­147.

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BrÝggemann Heinz 1989 -- Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer: RÄume und Augenblicke in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um 19 00" // BrÝggemann, Heinz: Das andere Fenster: Ein blicke in HÄuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer ur banen Wahrnehmungsform. Frankfurt am Main, 1989: 233­266. SchlÆgel Karl 1998 -- Moskau lesen. Die Stadt als Buch. Berlin. Schneider Manfred 1986 -- Die erkaltete Herzensschrift. Der autobio graphische Text im 20. Jahrhundert. MÝnchen. SchÆttker Detlev 2000 -- Erinnern // Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Benjamins Begriffe. Band 1. Frankfurt am Main, 2000: 260­298. SchÝtz Erhard 1993 -- Die Heimat des ZÆgernden. Zu Walter Benjamins Berlin Prosa // Haarmann, Hermann (Hrsg.): Berliner Profile. Berlin, 1993: 27­49. SchÝtz Erhard 2004 -- Benjamins Berlin. Wiedergewinnung des Entfernten // SchÆttker, Detlev (Hrsg.): Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die KÝnste. [Ausstellung Schrift, Bilder, Denken -- Walter Benja min und die Kunst der Gegenwart, 29. Oktober 2004­31. Januar 2005, Haus am Waldsee, Berlin]. Fankfurt am Main, 2004: 32­47. Szondi Peter 1978a -- Hoffnung im Vergangenen. ýber Walter Benjamin // Szondi, Peter: Schriften. II. Frankfurt am Main, 1978: 275­294. Szondi Peter 1987b -- Benjamins StÄdtebilder // Szondi, Peter: Schriften. II. Frankfurt am Main, 1978: 295­309. Walter Benjamin 1892­1940 1990 -- Walter Benjamin 1892­1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph GÆdde und Henri Lonitz. Marbacher Magazin, 199 0, 55. Marbach am Neckar. Witte Bernd (o. J.) -- Bilder der Erinnerung. Walter Benjamins Berliner Kindheit. http://www.walter benjamin.org/Texte/Witte/1­14.